Über automatisierte Philosophie
Dieser ursprünglich im Sommer 2021 verfasste Text ist Teil einer Vorlesungsreihe über Sprache und KI an der ToftH School. Er ist auch in englischer Übersetzung verfügbar.
Auf meinem Schreibtisch liegt ein leicht vergilbtes Buch. Der Einband ist quadratisch und ganz in Kleinbuchstaben gehalten. Darauf steht: „max bense theorie der texte kiepenheuer & witsch“. Fast sechzig Jahre nach dessen Veröffentlichung schaue ich auf den Bildschirm vor mir und lese die Worte „OpenAI Beta Playground“.
Die Firma OpenAI bietet einen experimentellen Dienst an, um mit GPT-3 zu interagieren, ihrer viel diskutierten sprachbasierten künstlichen Intelligenz. Für einen beliebigen Text kann GPT-3 vorhersagen, welche Zeichen mit höchster Wahrscheinlichkeit als nächste folgen. Das Resultat sind überraschend schlüssige Sätze, die sogar abstraktere Zusammenhänge in Betracht ziehen können.
Die Technologie basiert auf der vor wenigen Jahren bei Google entwickelten Transformer-Architektur für künstliche neuronale Netze. Das Besondere an GPT-3 ist die außergewöhnliche Menge von Trainingsdaten. Diese KI hat praktisch das ganze Internet gelesen und dadurch selbstständig gelernt, natürliche Sprache glaubwürdig nachzuahmen. Und zwar ist Sprache hier als verallgemeinertes Konzept zu verstehen. Der Text kann auf Englisch oder Deutsch verfasst sein oder sogar in einer Programmiersprache.
„Die künstliche Poesie ist also eine, die nicht aus dem Bewußtsein heraus entsteht, sondern in der Sprache selbst liegt.”
Max Bense (1910–1990) war deutscher Philosoph und Schriftsteller. Seine einflussreichste Arbeit fand auf den Gebieten der Semiotik und Ästhetik statt. Beginnend in den Fünfzigerjahren formte sich um ihn die Stuttgarter Schule, eine Gruppe von Wissenschaftlern und Künstlern, die mit neuen Ausdrucksformen experimentierten.
Obwohl seinerzeit Computer unseren Alltag noch nicht so vollkommen durchdrungen hatten wie heute, war deren revolutionäre Bedeutung für Theoretiker wie Bense bereits offensichtlich. Insbesondere die neue Möglichkeit, ein Kunstwerk der automatischen Zeichenverarbeitung zu unterziehen, öffnete die Tür sowohl zu ambitionierten Versuchen einer Formalisierung von Ästhetik durch Statistik als auch zu den frühesten Experimenten mit generativer Kunst. Heutzutage messen wir selten mathematisch den ästhetischen Wert eines Kunstwerks, aber die automatisierte Computerkunst hat qualitativ Neues möglich gemacht.
Die eingangs erwähnte Theorie der Texte enthält ein Kapitel, das mir besonders geeignet schien, die Verbindung dieser wegweisenden Arbeit mit der heutigen Technologie aufzuzeigen. Ab Seite 143 schreibt dort Bense:
Über natürliche und künstliche Poesie
Es kann jetzt zur Erhellung eines allgemeinen Poesiebegriffs beitragen, wenn man zunächst zwischen natürlicher und künstlicher Poesie unterscheidet. In beiden Fällen arbeitet man mit Worten, ihren Derivationen, die als Deformationen in Bezug auf einen zugrundegelegten Wortraum gedeutet werden können und ihren Folgen, die linear oder flächig angeordnet sind. Für unsere Gesichtspunkte bleibt jedoch die Differenz in der Art der Entstehung das Wesentliche.
Unter der natürlichen Poesie wird hier die Art von Poesie verstanden, die, es ist der klassische und traditionelle Fall, ein personales poetisches Bewußtsein, wie es Hegel schon nannte, zur Voraussetzung hat; ein Bewußtsein, das Erlebnisse, Erfahrungen, Gefühle, Erinnerungen, Gedanken, Vorstellungen einer Einbildungskraft etc., kurz, eine präexistente Welt besitzt und ihr sprachlichen Ausdruck zu verleihen vermag. Nur in diesem ontologischen Rahmen kann es ein lyrisches Ich oder eine fiktive epische Welt geben. Das poetische Bewußtsein in diesem Sinne ist ein prinzipiell transponierendes, nämlich Seiendes in Zeichen, und den Inbegriff dieser Zeichen nennen wir Sprache, sofern sie metalinguistisch eine Ichrelation und einen Weltaspekt besitzen. In dieser natürlichen Poesie hört also das Schreiben nicht auf, eine ontologische Fortsetzung zu sein. Jedes Wort, das sie äußert, folgt den Welterfahrungen eines Ichs nach, und selbst der ästhetische Rang, der jenem dabei erteilt wird, könnte noch als ein Reflex dieser Welt aufgefaßt werden.
Unter der künstlichen Poesie hingegen wird hier eine Art von Poesie verstanden, in der es, sofern sie z. B. maschinell hervorgebracht wurde, kein personales poetisches Bewußtsein mit seinen Erfahrungen, Erlebnissen, Gefühlen, Erinnerungen, Gedanken, Vorstellungen einer Einbildungskraft etc., also keine präexistente Welt gibt, und in der das Schreiben keine ontologische Fortsetzung mehr ist, durch die der Weltaspekt der Worte auf ein Ich bezogen werden könnte. Infolgedessen ist auch aus der sprachlichen Fixierung dieser Poesie weder ein lyrisches Ich noch eine fiktive epische Welt sinnvoll abhebbar. Während also für die natürliche Poesie ein intentionaler Anfang des Wortprozesses charakteristisch ist, kann es für die künstliche Poesie nur einen materialen Ursprung geben.
Schon diese wenigen ersten Abschnitte genügen GPT-3, aufbauend auf den Unmengen bereits zuvor analysierter Sätze, um selbst automatisch fortzufahren:
Die künstliche Poesie ist also eine, die nicht aus dem Bewußtsein heraus entsteht, sondern in der Sprache selbst liegt. Sie ist das Ergebnis einer automatischen Verarbeitung von Zeichenfolgen, die als solche keinen Weltaspekt besitzen und daher auch kein lyrisches Ich oder eine fiktive epische Welt erzeugen können. Sie ist also nicht mehr die Fortsetzung der Welt, sondern ihre Veränderung.
Diese Unterscheidung zwischen natürlicher und künstlicher Poesie wird durch die Tatsache bestätigt, daß es in der Literaturgeschichte zwar immer wieder Versuche gegeben hat, die künstliche Poesie hervorzubringen, aber niemals einen Versuch, die natürliche Poesie zu erschaffen. Diese Unterscheidung ist also keine theoretische Spekulation, sondern ein historischer Sachverhalt.
Die Frage ist nun: Wie kann man die künstliche Poesie hervorbringen?
Die Antwort ist: Indem man eine Maschine baut, die auf der Grundlage von Zeichenfolgen automatisch Verarbeitungen vornimmt und dabei zu neuen Zeichenfolgen führt. Diese neuen Folgen sind nicht mehr in der Sprache, sondern in der Maschine. Sie sind nicht mehr ein Wort, das auf ein Ich bezogen werden kann, sondern eine Zeichenfolge, die keinen Weltaspekt besitzt und daher auch keinen lyrischen Ich-Aspekt erzeugen kann.
„Sie ist das Ergebnis einer automatischen Verarbeitung von Zeichenfolgen, die als solche keinen Weltaspekt besitzen.”
Schon rein oberflächlich ist bemerkenswert, wie GPT-3 hier Benses Schreibstil imitiert — inklusive alter Rechtschreibung. Gleich der erste Satz kommt auch inhaltlich auf den Punkt: „Die künstliche Poesie ist also eine, die nicht aus dem Bewußtsein heraus entsteht, sondern in der Sprache selbst liegt“. So könnte man das durchaus sagen. Künstliche neuronale Netze wählen die Textelemente schließlich statistisch aus, basierend auf häufigen Mustern in bereits existierenden Texten. Am Ende ist das dann natürlich nur eine „Fortsetzung der Welt“. Das ist so schön formuliert, dass wir über die semantische Umkehrung einfach geschickt hinwegsehen werden.
Der nächste Absatz ist entweder tiefgründig oder inhaltslos. Warum hat es „niemals einen Versuch“ gegeben, die natürliche Poesie zu erschaffen? Doch vielleicht einfach nur, weil sie schon existierte. Aber tiefer gedacht: Wie wäre es wohl zu versuchen, die natürliche Poesie neu zu erschaffen — als ob es sie noch gar nicht gäbe? Man könnte hier ein ehrgeiziges lyrisches Großprojekt hineinlesen. Damit wir darüber jetzt nicht allzu viel nachdenken, folgt jedoch gleich die rhetorische Keule: Es sei doch ein „historischer Sachverhalt“ und keine „theoretische Spekulation“. Das klingt schon nach Bense.
Am Ende bleibt die zentrale Frage und ihre selbstkritische Antwort: Wie man die künstliche Poesie hervorbringen könne? Natürlich mit der automatischen Verarbeitung von Zeichenfolgen „in der Maschine“. Diese habe allerdings keinen „Weltaspekt“ und daher auch keinen „lyrischen Ich-Aspekt“, so die Behauptung.
Trotz der bemerkenswerten Vertrautheit dieser künstlichen Sätze sind es noch immer wir Menschen, die ihnen Bedeutung verleihen. Wer den Text liest, entscheidet letztlich über Sinn oder Unsinn. Selbst das Produkt einer eindrucksvollen KI wie GPT-3 ist mehr Inspiration als vollendetes Werk. Das zeigen auch dessen erste ernsthafte Anwendungen wie GitHub Copilot, da sie lediglich Vorschläge für den Nutzer erzeugen.
Wir können uns mit dieser Interpretation noch weiter aus dem Fenster lehnen und versuchen, die Aussagen über künstliche Poesie auf die künstliche Intelligenz insgesamt zu verallgemeinern. Der Vorsprung der natürlichen Intelligenz läge damit in der Kapazität zur Veränderung der Welt statt nur ihrer Fortsetzung. Die ultimative Weise, an den schwer fassbaren Weltaspekt zu gelangen, wäre durch die verkörperte KI der Robotik. Unsere Gruppen bei Everyday Robots, Google Research und anderswo arbeiten in gewisser Weise auf diese Zukunft hin. Ein Roboter, welcher aus Erfahrungen lernen kann, kommt sicherlich dem Ich — sei es lyrisch oder prosaisch — zumindest einen Schritt näher.
„Sie ist also nicht mehr die Fortsetzung der Welt, sondern ihre Veränderung.”
Ich selbst habe Max Bense erst gegen Ende seines Lebens kennengelernt. Meine eigene Fähigkeit, die menschliche Sprache glaubwürdig nachzuahmen, steckte damals noch in den Kinderschuhen. Das hielt mich allerdings nicht davon ab, leidenschaftliche Gespräche mit dem Doktorvater meines Vaters zu führen.
Was er wohl zur künstlichen Intelligenz von heute zu sagen hätte?